Dienstag, 22. Oktober 2019
Der Ratz und der (Aber-)Glaube
Es gibt Leute, die den Beginn des Menschseins an dem Punkt ansetzen, wo der Mensch begonnen hat, über die sinnlich wahrnehmbare Realität hinauszudenken und magische Zusammenhänge in die Welt hineinzudenken.
Im Großen und Ganzen ist das wahrscheinlich gar kein schlechter Ansatz, dachte ich jahrzehntelang, bis ich von dem austro-amerikanischen Psychologen Paul Watzlawick [Villach (Kärnten)/Palo Alto (Kalifornien)] in die Psychologie des Ratzens (rattus) eingeführt wurde.
"Aberglauben gilt allgemein als eine typisch menschliche Schwäche oder als magischer Versuch, Einfluß über die kapriziöse Unberechenbarkeit der Welt und des Lebens zu gewinnen. Merkwürdigerweise aber kann Aberglauben auch in einem so unphilosophischen Lebewesen wie der Laborratte (...) experimentell herbeigeführt werden. Die Versuchsanordnung ist sehr einfach. Die Ratte wird von ihrem Käfig in einen etwa drei Meter langen und einen halben Meter breiten Raum gelassen, an dessen anderem Ende ein Futternapf steht. Zehn Sekunden nach Öffnen des Käfigs fällt Futter in den Napf, vorausgesetzt, daß die Ratte erst zehn Sekunden nach Öffnen des Käfigs zum Napf kommt. Kommt sie in weniger als zehn Sekunden dort an, so bleibt der Napf leer. Nach einigem blinden Ausprobieren (dem sogenannten Versuchs- und Irrtumsverfahren) erfaßt die für praktische Sinnzusammenhänge sehr aufgeschlossene Ratte die offensichtliche Beziehung zwischen dem Erscheinen (beziehungsweise Nichterscheinen) von Futter und dem damit verbundenen Zeitelement. Und da sie normalerweise nur etwa zwei Sekunden für das Zurücklegen der Entfernung zwischen ihrer Käfigtür und dem Futternapf brauchen würde, muß sie die restlichen acht Sekunden in einer Weise vergehen lassen, die ihrem natürlichen Impuls, direkt zum Futter zu laufen, widerspricht. Unter diesen Umständen gewinnen diese Sekunden für sie eine pseudokausale Bedeutung. Und was pseudokausal in diesem Zusammenhang bedeutet, ist, daß jedes - auch das zufälligste - Verhalten der Ratte in diesen Extrasekunden selbstbestätigend und selbstbestärkend und damit zu jener Handlung werden kann, von der sie »annimmt«, sie sei notwendig, um dafür durch das Auftauchen von Futter von weiß Gott woher belohnt zu werden – und dies ist das Wesen dessen, was wir im menschlichen Bereich einen Aberglauben nennen.
Es versteht sich von selbst, daß dieses Zufallsverhalten für jedes Tier verschiedene und höchst kapriziöse Formen annehmen kann; zum Beispiel eine Art Echternacher Sprungprozession auf den Napf zu oder eine bestimmte Zahl von Pirouetten nach rechts oder links oder irgendwelche andere Bewegungen, die die Ratte zuerst eben rein zufällig ausführte, nun aber sorgfältig wiederholt, da für sie ihr Erfolg mit dem Futter ausschließlich davon abhängt. Denn jedesmal, wenn sie beim Ankommen am Napf Fressen vorfindet, bestärkt dies die »Annahme«, es sei durch ihr »richtiges« Verhalten erzeugt worden. Es ließe sich natürlich einwenden, daß mit dieser Erklärung der Ratte eine Art menschlicher Weltanschauung zugeschrieben wird und daß dies reine Phantasie ist. Es läßt sich aber die frappierende Ähnlichkeit mit gewissen menschlichen Zwangshandlungen nicht übersehen, die auf dem Aberglauben beruhen, sie seien zur Beschwichtigung oder Günstigstimmung einer höheren Macht notwendig.
"
(Paul Watzlawick: "Wie wirklich ist die Wirklichkeit")

Der Begriff "Aberglaube"
Eine Anmerkung sei gestattet: Paul Watzlawick verwendet hier das Wort "Aberglaube" als Erklärung für das magische Verhalten der Laborratte. Damit bleibt er in einem Wortgebrauch, den auch ich oft pflege. Allerdings ist mir bei meinen gelegentlichen Anfällen philosophischen Denkens der Begriff "Aberglaube" etwas suspekt, ich mag ihn nicht sonderlich. Was nämlich, so frage ich mich, ist der Unterschied zwischen Aberglaube und Glaube, wo habe ich die Grenze zu ziehen?
Sowohl Glaube als auch Aberglaube halten Sachverhalte für existierend, die in der sinnlich wahrnehmbaren Welt nicht auffindbar sind, beide pflegen Praktiken, welche die Existenz einer metaphysischen Welt voraussetzen. Auffallend ist dabei, daß abergläubisch stets die anderen sind, während ich selber mich als gläubig bezeichne. Die Trennung zwischen Glaube und Aberglaube ist anscheinend künstlich, Aberglaube ist ein Kampfbegriff in der Diskussion.
"Die Furcht vor denjenigen unsichtbaren Mächten, welche der Staat anerkennt, ist Religion, die Furcht vor solchen, welche er nicht anerkennt, Aberglaube", heißt es in einem "Philosophischen Wörterbuch". ([1])


[1] Ich finde die Quelle nicht mehr, das heißt genauer gesagt, der Mensch, der mir den Satz zitiert hat, hat damals nicht angegeben, welches Wörterbuch er meint. Womöglich hat er sich den Satz selbst ausgedacht, wodurch dieser natürlich nicht weniger wahr wird.

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